Neue Blickwinkel eröffnen

„Bitte nicht anlehnen“ steht auf einem Papierkärtchen, das gefaltet auf einem surrenden grauen Kasten steht. Falten im Papier erzählen davon, dass so manch einer sich trotzdem schon auf dem Kasten mitsamt Kärtchen angelehnt hat. Der Kasten ist unscheinbar, und doch ist das Mikro-CT eines der wichtigsten und teuersten Instrumente am Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie („LBI Trauma“). Das Forschungsinstitut in Kooperation mit der AUVA hat eines der besten Geräte des Landes im Einsatz.

Mikro-CT oder Mikro-Computertomographie erlaubt es, den Körper in komplett neuen Dimensionen zu betrachten. Ähnlich den CT-Geräten in der klinischen Praxis, bei denen ein Röntgenapparat um das Körperteil herumrotiert, werden auch im Mikro-CT Röntgenbilder aus allen Winkeln aufgenommen. Diese werden danach im Computer zu einem 3D-Bild zusammengesetzt. Was das Mikro-CT-Gerät so besonders macht, ist seine hohe Auflösung: bis in den Nanometer-Bereich geht die Auflösung, also kleiner als ein Tausendstel eines Millimeters. Ein großer Vorteil dabei ist, dass die Probe durch die Messung nicht zerstört wird. Sie muss nicht, wie etwa bei der Histologie, in Scheiben geschnitten werden. Mit einem buchstäblichen Röntgenblick sieht das Gerät ins Innere von Knochen und Zähnen hinein. Um weichere Strukturen wie Gefäße oder Nerven gut sehen zu können braucht es etwas Nachhilfe.

a. Ohne einen einzigen Schnitt können Forscher:innen mit dem Mikro-CT in alle Schichten des Rückenmarks blicken. Dort entdecken sie dank der hohen Auflösung feinste Strukturen, die der Wissenschaft bisher verborgen blieben. (Copyright: Patrick Heimel)

Rückenmarksforschung

Der „blinde Fleck“ Weichgewebe kann bei der CT durch die Verwendung von Kontrastmitteln aufgehoben werden. Moderne CT-Verfahren geben nie dagewesene Einblicke, beispielsweise in Nervengewebe. Am LBI Trauma wurde kürzlich eine alte Kontrastmittelmethode, die nach ihrem Entdecker benannte Lugol-Färbung, wiederentdeckt und für die Kombination mit der Mikro-CT-Messung optimiert. Die Technik ist nun in der Rückenmarksforschung im Einsatz. Bis hin zu kleinsten Nervenfasern und Zellen reicht nun der Blick der Wissenschaftler:innen. Ein unschätzbarer Wert auf der Suche nach Behandlungsmöglichkeiten bei Rückenmarksquetschungen.

Vermessen von „Bucky Balls“

Im Labor von Prof. Dr. Aleksandr Ovsianikov an der TU Wien wurden die sogenannten „Bucky Balls“ entwickelt. Die mikroskopisch kleinen Gerüste, die an Fußbälle erinnern, stammen aus dem 2-photon-3D-Drucker und haben einen Durchmesser von nur 300 Mikrometer. Drei Stück aneinandergereiht passen in einen Millimeter. Die Mikro-CT veranschaulicht eindrucksvoll die feinen, regelmäßigen Gerüststrukturen, und dass sich die „Bucky Balls“ zu großen Gebilden verbinden lassen. Die kleinen Bällchen können sich als Implantat an verschiedene Defektformen anpassen und ermöglichen das Einwachsen von Zellen, um neues Körpergewebe zu bilden.

a. Gregor Weisgrab aus dem Labor von Prof. Ovsianikov entwickelte die kleinen „Bucky Balls“, das Mikro-CT am LBI Trauma macht sie sichtbar und ermöglicht dreidimensionale Vermessungen. (Copyright: Gregor Weisgrab / Patrick Heimel)

Knochen scannen

Ein Heimspiel ist für die Mikro-CT das Vermessen von Knochen. An über 50 Studien hat der Bioinformatiker am LBI Trauma, Patrick Heimel, MSc, allein zum Thema Knochen mitgewirkt. Besonders prominent dazu ist die Studie von Dr. Jakob Schanda, in der das Team nachweisen konnte, das die Gabe eines Osteoporose-Medikaments nach einem komplexen Sehnenriss an der Schulter die Knochendichte im Schulterkopf erhöht. Zum Einsatz kamen dabei typische Methoden der Bioinformatik: Die CT-Scans wurden in für die Vermessung passende Formate gebracht und die verschiedenen Knochenregionen – die dicke Außenhülle und das innere, schwammartige Gerüstwerk – in der Software markiert. Im Computer können danach verschiedenste Paramater berechnet werden. Besonders interessant waren in der Studie Aufbau und Dichte des inneren Gerüstwerks des Schulterkopfs, da sich dessen Zustand nach einer Schultersehnenverletzung häufig verschlechtert. Hier zeigte das in der Studie untersuchte Medikament Wirkung. Der dazu erschienene Fachartikel wurde mehrfach preisgekrönt.

a. Die Bioinformatik eröffnet zahlreiche Möglichkeiten zur Veranschaulichung und Vermessung der im CT gewonnenen dreidimensionalen Bilder. (Copyright: Jakob Schanda / Patrick Heimel)

Einsatz in der Archäologie

Hartgewebe ist nicht nur in der Medizin hochinteressant, auch in der Archäologie findet es große Beachtung – sind Knochen und Zähne doch meist das Einzige, was von den uralten Körpern übrigbleibt. Patrick Heimel durfte auch schon bei Studien in Zusammenarbeit mit dem Naturhistorischen Museum mitwirken, unter der Leitung von Maria Teschler-Nicola, Direktorin der Anthropologischen Abteilung. Gemeinsam mit dem Anthropologen Stefan Tangl und dem Bildgebungsspezialisten Toni Dobsak von der Universitätszahnklinik Wien beschäftigte er sich etwa mit der Frage des genauen Sterbealters der vor etwa 31.000 Jahren verstorbenen „Wachtberger Zwillinge“, zwei in einer niederösterreichischen Ausgrabungsstätte gefundenen Säuglingen. Mittels Mikro[1]CT gelang es ihnen, im Zahnschmelz die sogenannte Neugeborenenlinie sichtbar zu machen. Im Mikro-CT zeichnet sich dies als dunkle Linie im Zahnschmelz ab und trennt den vorgeburtlich vom nachgeburtlich gebildeten Schmelz. So wurde klar, dass ein Zwilling den anderen um etwa sechs Wochen überlebte. Die Zwillinge sind damit gleichzeitig die jüngsten und ältesten „Patienten“, die im Mikro-CT des LBI Trauma je untersucht wurden.

a. Ebenfalls im Mikro-CT untersucht: die Wachtberger Zwillinge. Ihre Zähne gaben Hinweise auf das Sterbealter. (Copyright: OREA-ÖAW)