Reine Nervensache – Fortschritte auf dem Gebiet der Neuroregeneration
Nerven durchziehen unseren gesamten Körper und beeinflussen, wie wir die Welt spüren und uns in ihr bewegen. Wird ein Nerv verletzt, hat das unmittelbare und oft sehr weitreichende Konsequenzen: von Schmerzen und Empfindungsstörungen bis hin zum Funktionsverlust ganzer Gliedmaßen. Was in wenigen Sekunden beschädigt wurde, bestimmt das Leben von PatientInnen oft noch lange.
In Europa sind jährlich rund 300.000 Menschen von peripheren Nervenverletzungen betroffen, meist in Folge eines Unfalls. Viele der Betroffenen sind junge Erwachsene. Aufgrund der langen Rehabilitationsphasen sind diese Verletzungen mit besonders hohen Kosten für das Sozialsystem verbunden. Aber für die PatientInnen geht es um mehr als nur den beruflichen Wiedereinstieg: ihre gesamte Lebensqualität hängt vom Erfolg der Therapien ab.
Der sprichwörtliche seidene Faden hat am LBI Trauma eine ganz andere Bedeutung: ein Teilprojekt der Gruppe für Neuroregeneration unter der Leitung von Dr. David Hercher behandelt die Entwicklung neuartiger Nervenleitschienen aus Seide.
Geht bei der Verletzung eines peripheren Nervs – also eines Nervs abseits des Zentralnervensystems – Gewebe verloren, ist ein chirurgischer Eingriff nötig, um die Kontinuität des Nervs wiederherzustellen. In der klinischen Routine wird hierfür ein Nerventransplantat an anderer Stelle entnommen und dient als Überbrückung. Dies geht jedoch mit dem Verlust der Sensibilität des Bereichs einher, an dem der „Spendernerv“ entnommen wurde. Die Menge an möglichen Spendernerven ist zudem sehr überschaubar. Der Bedarf an klinischen Alternativen ist groß. Eine solche ist das Überbrücken mittels einer künstlich hergestellten Nervenleitschiene, eines sogenannten Conduits. Am LBI Trauma, in Kooperation mit der FH Technikum, wurde ein neuartiges Conduit aus Seide entwickelt. Es besitzt die erforderlichen physikalischen und biologischen Eigenschaften um die Regeneration eines Nervs zu unterstützen. Das Seidenconduit wird in präklinischen Studien bereits erfolgreich eingesetzt und stetig weiterentwickelt. Zum Beispiel wird an der Zugabe von Wachstumsfaktoren gearbeitet, um die Regeneration weiter zu unterstützen.
Die Erforschung des Nervensystems und seine funktionale Regeneration entwickelte sich in den vergangenen Jahren mit geradezu rasanter Geschwindigkeit. Dennoch bleiben einzelne Aspekte noch nahezu unerforscht, wie etwa Aufbau und Funktion des lymphatischen Systems in peripheren Nerven. Dass ein solches vorhanden ist, zeigen Gewebsschnitte und vereinzelte Studien. Konzepte zur Therapie peripherer Nervenverletzungen in Bezug auf das Lymphsystem sind in der Literatur noch gänzlich unbeschrieben. Ein besseres Verständnis könnte hier neue Lösungsansätze bieten. Die Frage nach der Rolle des Lymphsystems bietet sich insbesondere auch bei Nervenkompressionsverletzungen an, wie beispielsweise dem Karpaltunnelsyndrom, einer weit verbreiteten Berufskrankheit.
Durch erstmalige exakte Beschreibung des lymphatischen Systems in peripheren Nerven mit unterschiedlichen Verletzungsgraden erhoffen die Wissenschaftler sich neue Erkenntnisse. Besteht ein Zusammenhang, könnte die Stimulation der Lymphgefäßbildung mittels Wachstumsfaktoren die Nervenheilung beschleunigen, oder aber die fortschreitende Degeneration eines Nervs aufhalten.
Nicht nur die peripheren Nerven sind Thema am LBI Trauma – auch Rückenmarksverletzungen stehen im Fokus. Das Hauptaugenmerk liegt hier bei der Verhinderung und Verminderung der Folgeschäden nach einer Rückenmarksverletzung. Denn nur selten wird das Rückenmark bei einem Unfall tatsächlich komplett durchtrennt. Es reicht bereits eine Quetschung, um extensiven Schaden im Rückenmark entstehen zu lassen. Entzündliche Prozesse bauen das Nervengewebe nach und nach ab. Die Durchtrennung der Nervenbahnen erfolgt oft erst infolge dieser destruktiven Prozesse, Tage nach der eigentlichen Verletzung.
Diese subakute Phase nach der Verletzung gilt als eine der klinisch relevantesten Phasen für therapeutische Eingriffe. Die Gruppe um Dr. Hercher testet beispielsweise die Anwendung der extrakorporalen Stoßwelle, welche bereits in Laborversuchen eine Verbesserung der Regeneration und Modulation von Entzündungsprozessen in verschiedenen Geweben demonstrieren konnte. Tatsächlich zeigten erste präklinische Studien eine funktionelle Verbesserung nach Rückenmarksverletzungen, wenn Stoßwellentherapie zum Einsatz kam.
Worauf dieser positive Effekt beruht wird in Folgestudien derzeit entschlüsselt. Es werden bereits spezielle bildgebende Verfahren entwickelt, um das Ausmaß des Schadens sowie den Effekt der angewandten Therapien sichtbar und messbar zu machen.